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Legende
La Mina: Das Viertel in dem ich lebe und arbeite
CCG: Centro Cultural Gitano de La Mina - Kulturzentrum urspruenglich andalusischer Gitanos in La Mina
Culto: Evangelische Pentecost-Kirche mit hohem Gitanoanteil
Paco Moreno (alle Namen geändert): Praesident des CCG und Flamencopurist
Janko Moreno: Bruder von Paco, Barbesitzer, Flamenco-Fusionist
Kiko: Ein alter Gitano und wichtiger Gesprächspartner
Mateo: Gewährsmann im Culto, Mentor


payo/paya: Nicht-Gitano / Nicht-Gitana, emic-Begriff
quinquillero_a: Nomad_in, der/die wie ein Gitano lebt aber ethnisch keine_r ist, auch emic
mestizo_a: Jemand, der genetisch 50/50 Gitano/Payo ist

Dienstag, 26. März 2013

Die altbekannte heimkehrbedingte Zuspitzung in zugespitzter Form

Ich geh jetzt nach Haus weil die Feldforschung die ist jetzt aus -- das wurde mir am 30. Jänner bewusst, nach einer Supervisionssitzung in der "Deutungswerkstatt" am Kulturanthropologie-Institut in Graz, wo ein Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch von der Gruppe analysiert wurde. Das Resultat war drastisch: "Komm heim, am besten gleich, es reicht schon für drei Diplomarbeiten! Mach fertig, weil sonst wird das nix !"

Das war wieder mal eines der ganz großen Aha-Erlebnisse, das mir bewusst machte, dass ich da doch in einer ganz schönen Manie verwickelt war...der festen Meinung, bei der Forschung noch nicht genug zu haben weil noch bei keinem "Punkt" angekommen, war ich zum Beispiel bereit, die Schikanen, Kosten und den Aufwand eines Gast-Studiums an der Uni-Barcelona auf mich zu nehmen, nur um dort bleiben zu können, im Feld. Ich war halt wirklich "drinnen", in meinem Ding, und konnte es nicht von außen sehen. Die Supervision im fernen Graz holte mich da raus und machte mich sehen. (Man muss aber auch berücksichtigen, dass ich mich in eine Spanierin verliebt hatte, die nicht mit mir mitkommen konnte, was meinen geistigen Horizont zusätzlich auf das "Dort" einschränkte).

Mir blieben also netto gerade einmal drei Wochen zum Beginn des neuen Semesters, nun in Graz. Denn eine Woche musste ich ja für die Fahrt mit dem Wohnmobil einrechnen, jajaja genau, mit dem Wohnmobil.
Drei Wochen für  all das was ich noch wissen wollte und machen musste, Interviews vor allem, drei Wochen für ein hoffentlich behutsames Abbauen der Feldforschungsbeziehungen und Illusionen, die ich bei meinen "Glaubensbrüdern" geschaffen hatte (in Bezug auf Annehmen des Glaubens), für Reparaturen & Pickerl fürs Wohnmobil, für Abschied Abschied Abschied, und so weiter. 

 Ausgehend von meinen bisherigen Erfahrungen, die ich beim vorübergehenden Aussteigen aus dem Feld gemacht hatte (Österreichbesuche), wo sich die Intensität der Ideen, Ereignisse und Begegnungen jedes Mal zur Abfahrt hin in einer logarithmischen Kurve nach oben potenziert hatte, wusste ich dass es diesmal auf irgendeine, noch nicht vorhersehbare Weise "ganz arg" werden müsste, weil diese Abfahrt ja die endgültige sein würde.

Tja und so war es auch ---  endlich war ich wieder mal in den Bars und Zusammentreffen in der Straße "so richtig dabei" und "integriert"! ...weil ich wieder rausging, drauf zu ging.
Endlich führte ich richtige Interviews! ... auch deshalb weil ich nun auch Gesprächstermine bei schwer erreichbaren Leuten wie den mittlerweile sehr fernen "Auftraggeber" der Arbeit, Paco Moreno, oder bei gewissen Kirchenleuten, bekam.
Endlich bekam ich Zugang zur weiblichen Seite der Kirche, was bis dahin unmöglich war, zu einer "Alten", Witwe, Familienoberhaupt, Zentrum der täglichen Familien-Treffen in der Straße.
Außerdem lernte ich einen männlichen  "Alten" der Kirche kennen, der einmal  z.B. eine spontane spirituelle Vision in meinem Beisein, ja durch mein Beisein, hatte. Bei solchen und anderen, ähnlichen Ereignissen knisterte es schon im Gehölz, da bekam ich schon das Gefühl, so in Wellen, dass es jetzt "heiß" wird.

Am Freitag, den 22.2. war es dann so weit: das Wohnmobil war repariert und bereit fürs Pickerl, Samstag sollte es los gehen. Der Tag war vollgestopft mit einem großen Interview, der Pickerlprüfung, Wäsche waschen, ein Hospitalbesuch mit einer Gruppe der Kirche (Beistand für Kranke), der Abendmesse, einem Abendessen mit besagtem "Alten", und Offensein für das was da sonst noch kommen mag ... und es kam:  während des Tages erreichte mich die Information, dass es eine Nachtmesse mit den Jungen (zwischen 15 und 25 Jahren) geben würde, ungewöhnlich, weil diese Messen immer Donnerstags stattgefunden hatten. Sie würde von J.D.* geleitet werden, mein "Bibellehrer", Priesterkandidat, zu dem sich schon bei anderen Gelegenheiten eine besondere, starke Verbindung gezeigt hatte. Es würde ein "Film" gezeigt werden, und dann open end, hieß es.

Hier der Tagebucheintrag der Nachtmesse:

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Unglaublich, wie lang das Video, wie anstrengend. Eine Aufzeichnung eines großen Culto-"Marathons" in Madrid, Konzertcharakter, sehr programmatisch und manipulativ, die Gläubigen erschienen wie Marionettenpuppen.
Es gab wieder diese Bäckereien die gedumpstert ausschauen. Als es endlich vorbei war, Energie natürlich davon, bei allen, viele gingen. Und der enge Zirkel der Jungs blieb. Die die immer bleiben. J.D. ließ sie einen Kreis bilden und stellte mich hinein - Gebet für mich, zum Abschluss / Abschied. Ich schaffte es loszulassen, die wie auch immer geartete Energie dieses Gebets über mein eigenes mich-Ausdrücken, mich-Trauen, tun, bewegen,...anzuzapfen.
Begann zu springen, im Kreis dann, alle adressierend, klatschen, lustige Handbewegungen. Sie flippten aus, es war großartig. Und der Beginn des liminalen Zustands, kollektiv. So liminal für mich, dass das Gedächtnis hier nicht mehr ganz chronologisch geht, eher qualitativ.

Für mich persönlich wichtig: die Umarmungen. V.a. mit dem Monkeybar-Jungen, der ganz viel Drama am laufen hatte,  ich sagte ihm in der Umarmung, sorgfältig in meinem Herz und seinem Leben lesend, dass alles gut ist, dass Jesus immer mit ihm ist, mit seiner Familie und seiner Zukunft. Er lag mir schluchzend und dankend in den Armen. Oder an Pepe´s Seite singend... ich kostete alles aus was sich anbot und half wo ich konnte. [Das Ritualsetting - Dunkelheit und das laute kreuz-und-quer-Singsang aller im Gespräch mit Jesus Vertieften - bietet ja in  ihrer visuellen und akustischen Anonymität große Möglichkeit zur Freiheit. ]
Ein Junge lag lange Zeit regungslos und ausgestreckt am Boden - bizarr, aber schon ok, "es geht ihm gut", sagten die anderen.
Dafür "hatte es was" an anderer Stelle: J.D. erregte meine Aufmerksamkeit, intuitiv, er war in einer eigenartigen an den Sessel gekauerten Haltung, ich setzte mich neben ihn, hörte ihn flüsternd, tief versunken, mit der heiligen Dreifaltigkeit reden. Weiß nicht mehr genau, ich entfernte mich irgendwann wieder, und sah ihn dann plötzlich weinend, halb am Sessel, halb am Boden niedergebrochen, ich hockte mich neben ihn, hielt ihn ein bisschen, und er erwachte regelrecht aus einem in Tränen Verlorensein, allein sein, (vorher irgendwann, laut und verzweifelt betend: "hilf mir, ich bin allein!"), er ließ Licht einschalten, holte die Leute zusammen, mit verschwollenem Gesicht, sagte dass der heilige Geist mit ihm geredet habe, auf neue Art und Weise: "Willst du Menschenmassen?" - sein Drama war, zu glauben dass er über die 5 Jahre der Arbeit mit den Jungen nicht genug erreicht habe, dass es zu wenige seien. Der heilige Geist habe ihm also gesagt, dass er das, die Gruppe, wertschätzen solle; aus ganzem Herzen weinend, alle, aber vor allem J.D., alle gemeinsam ihn umarmend, er: "danke für euch", und dass er sie nun vollkommen wertschätzt etc., das war der Punkt wo die Nächstenliebe nicht mehr über Jesus, sondern direkt ausgedrückt wurde, der Schlüsselmoment. Die Doktrin / Ideologie im Kern aufgelöst, vorübergehend. Das setzte sich noch kurz fort, als sich J.D. dann bei Mariano bedankte, ich stand daneben und hörte zu, er bedankte sich direkt bei ihm (nicht über Jesus) als Rückgrat der Gruppe und der Arbeit mit den Jungs, Mariano in tiefer Dankbarkeit, was für eine Bestätigung für ihn, Selbstwert, als wertvoller Teil der Gesellschaft, das alles.
Schön dann auch, ein bisschen mit J.D. über die Messe zu reflektieren, ich: "das war ein Wunder, mehr braucht es dazu nicht", er, die menschliche Seite wieder vergessend: "...und das kann nur der heilige Geist bewirken, ein Psychologe bräuchte dafür Jahre..."
Stark auch der Moment, wo ich vor Allen die besondere Verbindung zwischen mir und J.D. ansprach.
Gemeinsames Foto gemacht. J.D. gab mir seine Postadresse für weiteren Papierbriefkontakt (!), er habe kein E-Mail. Verabschiedet.
Um 3 Uhr früh völlig fertig, Feld-trunken, in einem veränderten Bewusstseinszustand, heim.
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Mit diesem abschließenden Erlebnis ist genau das Gegenteil von dem passiert, was ich aus Vernunft und Supervision heraus vorgehabt hatte: Ein Nicht-Glaubensbekenntnis, ein Abbauen des automatisch entstandenen Bildes, dass ich quasi auf dem Weg zum wahren ( dem ihrigen) Glauben wäre. Es hatte schon gereicht zu sagen, dass ich "versuchen wolle, ihren Glauben zu fühlen um ihn zu verstehen", dazu meine aktive Beteiligung bei den Jungen-Messen etc., da half es auch nichts, über die großen Messen kritisch zu reden. Dieses  Bild von mir und der Anspruch an mich, den "Weg" weiterzugehen, hatte sich schon verfestigt, bis hin zum Status des Glaubensbruders, der mir bei der letzten Nachtmesse offen "verliehen" wurde. Hätte ich da sagen sollen: "ähm, ja, stimmt schon, ich fühle mich euch brüderlich verbunden und alles, aber ich kann mich mit eurer Doktrin nicht identifizieren..." ??

Dies muss ich jetzt in den Briefen an J.D. bewerkstelligen.
Nicht nur aus forschungsethischen Gründen, sondern auch weil ich im Sommer noch einmal für ergänzende Fragen die mir bis dahin sicher kommen werden, vorbeischauen möchte, und da die Verhältnisse geklärt haben möchte.
Und dann nochmal in einem Jahr, um die spanische Version der Diplomarbeit in Buch- oder Prospektform zu verteilen, vielleicht auch offiziell zu präsentieren, in der Bibliothek von La Mina. Auch wenn es "nur" eine Diplomarbeit ist, aber nach allem was passiert ist, glaube ich ist es wichtig dass die Betroffenen selbst Zugang zu den Ergebnissen und Schlüssen meiner Forschung haben. Interesse besteht genug.

Es war mir eine Freude, meine Erlebnisse und Gedanken mit euch zu teilen. Ich glaube das ist jetzt der Schluss. Das Wohnmobil hat es übrigens bis nach Österreich geschafft - das Nomadenexperiment geht weiter.


* alle Namen geändert

Sonntag, 6. Januar 2013

Kleine Kircheninitiation


Hier der Tagebucheintrag, der die letztens versprochene "Initiation" beschreibt. Der Kontext ist eine Nachtmesse in der großen Kirche, die einmal wöchentlich für junge Männer bis 25 abgehalten und von Laienpredigern geleitet wird: 

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Zum Culto: wollte zuerst gar nicht, da war nur Bernardo, Balderas (zwei Laienprediger) und ein Junge, wollte schon fast gehen. Eine etwas müde Partie fand sich ein, die Balderas nach dem Motto “eh nur a Viertelstunderl” in die Kirche einlud - es sah nach einem daten-armen Abend aus. Aber es entfaltete sich der spektakulärste, schönste und auch datenreichste Gottesdienst ever. It was crazy. 

Kirche wieder ganz dunkel.
Was wars diesmal – warum ...? Ein paar oraciones *, noch eher müde, dann gleich Gesang, der diesmal eine etwas andere Qualität hatte, mehr aus dem Herz, dann eine infernale oracion von Bernardo, und dann eines Moments (ich hatte ja schon einige Anwandlungen im Laufe des Abends gehabt, “Prepare your mind to die”, so in die Richtung) plötzlich die Aufforderung von Balderas, eine oracion zu machen. Kurzer Anfall von Angst, aufstehen, anfangs noch dem folgend was ich mir schon einmal durchgedacht hatte, "danke Jesus dass ich mit dir sein kann" oder so **, dann, sobald ichs zuließ wars wie "ganz-werden", plötzlich direkt aus meinem Herz zu sprechen, an andere sehr offene Herzen, die jeden Satz von mir mit affirmativen Seufzern, oder “que bieeeen” ("wie gut!") kommentierten. Ich dankte eben dafür, für diese offenen Herzen, dann auch an einen für mich quasi inneren, für die anderen äußeren Jesus:  
“danke Lehrer, danke Bruder”, "Bruder" leiser gesagt weil Angst dass es nicht konform geht, ist es aber. 
Ja, alles in allem kann ma sagen, gut gemacht, weil ich es gschafft habe, in einer sehr exponierten Situation wo ich Stellung beziehen musste ganz bei mir zu bleiben, und gleichzeitig so sehr "bei ihnen" zu sein, dass sie dann nach der Messe zu mir gekommen sind und sich bei mir bedankt haben (v.a. die zwei Laienprediger), für meine oracion, die ihnen "viel Gutes" getan habe, weil sie direkt von Herzen gekommen sei. 
Es war die Einweihung! 

Da waren Szenen heute ... 
Der Junge José ging zurück zu Nelson, die beiden 15 min lang in totaler Umarmung, total offen, sich gegenseitig segnend, weinend, rufend, Wünsche an Jesus für den jeweils anderen, etc.  Auch der sonst so souveräne grosse Lange, alleine zurückgesetzt und geweint, alles ausseghaut. Ich sah sie in einer Authentizität von Glaubenspraxis wie sonst nie. 
Die Kirche hat heute "funktioniert", als Herzöffnungsinstitution, zur Psychohygiene und Bearbeitung emotionaler Konflikte, und als gewaltiges soziales Event, sehr frei von Ritualdefinitionen, es war dann am Ende komplett frei (graduell immer mehr befreit), und dann keiner heimgegangen als das Ritual vorbei war, es wollte keiner heimgehen, “grassroots-power” plötzlich, communitas. 


*oracion = Ein Gläubiger steht auf und hält vor allen eine Art persönliches Gespräch mit Jesus
** alles auf Spanisch natürlich

Freitag, 28. Dezember 2012

Ethik-Knoten II

Er heisst Antonio und ist mir von Anfang an als "graue Eminenz" der großen Kirche aufgefallen, die  hinter dem predigenden Pastor sitzt und weniger durch Worte als durch bloße Präsenz das Messeritual mitgestaltet.

Wenn er doch einmal predigte, hatte ich bei ihm stärker als bei allen anderen das Gefühl, dass er manipulierend vorgeht, dass hinter seinen Worten andere Motive als die Vorgegebenen stehen. Er war auch der einzige der Kirchenverteter, der mich lange Zeit ignorierte und erst in letzter Zeit begann, mich zu grüßen. Außerdem wusste ich aus verlässlicher Quelle, dass er gegen Kirchenkritiker mindestens einmal schon sehr scharf vorgegangen ist. Und er fährt einen großen Mercedes, was Anlaß für viel Polemik von außerhalb und verdeckter Kritik innerhalb der Kirche ist. Er ist sehr gelehrt, nicht nur was die Bibel betrifft - eigene Theorien zur Herkunft der Gitanos bauend, betriebt er seit vielen Jahren eine Art Eigenstudium zur Geschichte seines Volkes.

Ich hatte also einen gesunden Respekt vor ihm. Eines Abends, vor der Kirche, kam er plötzlich auf mich zu, wir kamen ins Gespräch. Trotz meines "Respekts" stellte ich diesmal in der Präsentation meiner selbst den E-Lehrer, der bis jetzt als Schutzschild gedient hatte, hintan und betonte eher den Forschungsaspekt meines Tuns, und noch bevor ich mich präventiv rechtfertigen konnte, fiel er mir ins Wort und erinnerte mich an meine "Verantwortung" die ich als Autor und Publizierender hätte, und dass mir - gleich einem Chirurgen - als Solcher keine Fehler unterlaufen dürften. Und wenn doch, dann würde ich vor meiner Zeit "sterben", und meine Kinder auch" -- ich musste erst mal schlucken. Ich erfuhr dann bald aus anderer Quelle, dass dies keine direkte Todesdrohung ist, sondern eine Drohung, die quasi über Gott läuft, der alttestamentarische Gott, der Sünden nicht nur dem Sünder vergilt, sondern auch seinen Kindern (7 Generationen).

Vor der nächsten Messe traf ich ihn wieder zufällig, und präsentierte unerschrocken meine guten Absichten: nämlich ( wie schon meinem Bibellehrer gegenüber) dass ich ihre Glaubenspraxis von innen erfahren möchte, ihre religiösen Gefühle selbst spüren möchte, so weit ich kann den Glauben also annehmen möchte. Er nahm das voll an, sein Bild von vorhin, der arrogante Forscher in kritischem Abstand, der nichts versteht, verschwand.
Wir gingen fast Hand in Hand in die Kirche.

Lüge? Theater? Doppelspiel? "Ethischer Knoten"?   ... nun ja, erstens ist da dieses  so weit ich kann, das mir die Hintertüre des "eben-nicht-gekonnt-habens" offenlässt, und zweitens passierte bald darauf noch etwas, eine spontane Initiation, die den "ethischen Knoten" zumindest für den Moment gelöst hat ... bald mehr dazu.

Montag, 26. November 2012

Ethik-Knoten


Er heißt J.D. (Name geändert) und wird mir schon seit zwei Wochen als Bibellehrer empfohlen, weil er der “Experte” sei, was die Bibel betrifft. Er ist um die 35, verheiratet, zwei Kinder. Bezeichnet sich selbst als glücklichsten Menschen der Welt, weil er sich tief im Glauben verankert fühlt, im Glauben an seinen Weg zu Gott hin, geleitet vom heiligen Wort, der über Zweifel  erhabenen und nicht kritisierbaren Bibel. 

Er weiss zwar dass ich (neben E-Lehrer auch) Forscher bin. Was laut cultokritischen Gitanos gefährlich im Sinne des Feldzugangs ist – aus ihrer Sicht ist es eine Sekte die kritische Geister nicht weit vorlässt.  Ich habe mich aber als Forscher positioniert, der weiß, dass er den Glauben, um ihn zu verstehen, zuerst fühlen muss, ja den Glauben annehmen muss soweit er kann.
Das Gespräch mit J.D. ist als “Bibelstunde” angesetzt, die sich aber von Anfang als persönliches Gespräch gestaltet. Für ihn ist das Treffen also ein  Gespräch, das mich zum Glauben hinführen soll, ein Dienst an Gottes Plan, und für mich ist es ein Leitfadeninterview, in dem sich narrative Elemente zu seiner Person mit informativen Elementen zu Glauben und Kirche vermischen und ein natürliches Gespräch in gegenseitiger Sympathie ergeben. Für mich bin ich
ein am Glauben interessierter Feldforscher, der aber schon weiß dass dieser Glauben für ihn persönlich nicht der Stein der Weisen ist, für ihn gibt es in mir aber noch einen fruchtbaren Boden für den Glauben, in den es sich zu investieren lohnt.
 
Eine ethisch problematische Situation des Doppelspiels also, die sich aus den Notwendigkeiten, aber wohl auch Irrtümern heraus ergibt. Um den Leuten möglichst nahe zu sein und mir Datenquellen zu erschließen, muss in meiner sozialen Rolle (Selbstperformance) auch der Glaubensaspekt dabei sein, ich als "authentischer" Kirchenbesucher, somit als tatsächlich teilnehmender Beobachter, wenn auch nicht wirklich authentisch und teilnehmend. 

Es bleibt mir nur, diese soziale Rolle halbwegs flexibel zu halten und zu schauen, wie sich die Situation weiter entwickelt. 

Sonntag, 28. Oktober 2012

Hallelujah!

Gestern abend - sehr interessant und fruchtbar, und mit einigen Implikationen die noch nicht wirklich absehbar sind.
Vorgeschichte: Ich besuche mittlerweile zwei Kirchen, die Große (s. letzter Eintrag) und eine kleine Garagenkirche in der selben Straße. Hier ein kleiner Überblick über die Verschiedenheit dieser beiden am Papier "gleichen" Kirchen, so wie es sich für mich bis jetzt darstellte:
  
Die Große Kirche - generell                          Die Kleine Kirche - generell  
Relativ hierarchisch                                                            Wenig hierarchisch
Stark institutionalisiert                                                        Wenig institutionalisiert
Höhere soziale Schichten, oder man tut so (Kleidung)     "Arbeiterkirche", Statuspräsentation unwichtig
Soziales u. ökonom. Kapital durch polit. Verbindungen     Soziales Kap. untereinander,wenig ökon. Kapital
Feld teilweise schwer zugänglich (Pastoren)                       Feld offen
Große Messe:                                                         Kleine Messe:
Heller, großer Kirchenraum: Halle                                  Dunkler, schummriger, kleiner Kirchenraum: Höhle
Durchstrukturiert, Ritual wird v. oben bestimmt                Wenig strukturiert, Ritual wird v. allen getragen
Theologischer Inhalt, Fokus auf die Predigt (45 min)        Wenig theol. Inhalt, Predigt 5-10 min
Gottesbeziehung über die Pastoren (veräußert)               Persönliche Gottesbeziehung (verinnerlicht)
Aktives Gebet: ca 10 min, nach Anweisung                    Viele die ganze Messe über, eigeninitiativ
Publikum passiv                                                                Publikum aktiv 
Trennung zwischen Pastoren und "Publikum"                 Grenzen verschwimmen, wenig Trennung
Viel Trennung unter den Messebesuchern                      Weitgehende soziale Einheit, "Familie"
Wenig Ekstase                                                                 Viel Ekstase

..............usw. 

Kurz, aus meinem bisherigen, geheimen Werten heraus: Große Kirche böse, kleine Kirche toll, große Kirche manipulativ bis diktatorisch, kleine Kirche demokratisch. Zu meiner Verteidigung soll aber gesagt sein dass ich in der Großen schon Messen erlebt habe, die mich verstört bis zerstört zurûckgelassen haben, und in einem Ekel und Zorn Religion und Kirche gegenüber. Stichwort "Manipulation" von seiten der Pastoren, und "Passivität" von seiten der Kirchengänger. Die Sicht verstärkt durch persönliche Wertungen, klar.  

Gestern kam aber alles anders. Mit der Vorahnung, dass heute abend im Culto was wichtiges passieren wird, ging ich in die kleine Kirche. Und stieß auf Unerwartetes: Sie erlaubten mir nicht, die Messe aufzunehmen, weil der Pastor nicht da war. Ich fühlte mich von einem Co-Pastor dann beobachtet, beäugt, unangenehm. Die Messe kurz und bündig, flach. Ein mir versprochenes Video nicht verfûgbar, usw. - nichts zu holen, außer die aus dem sichtbar Werden von Grenzen resultierenden Informationen.

Dann tatsächlich zufällig (planlos) bei der großen Kirche vorbei- und in die Nach-Messe-Gesellschaft vor der Kirche hineingestolpert. Und, jeglicher Absicht, "feldforschen" und Informationen generieren zu wollen, entledigt, konnten äußerst produktive Feldforschungssituationen entstehen. Oder: Meine soziale Performance (Offenheit) veranlasste einen der bis dahin so unzugänglichen Pastoren dazu, an mich heranzutreten und mal zu schauen wer denn dieser Fremdling ist, der in der Messe schon durch bloße Anwesenheit aufgefallen ist. Aus einem fast ganz ehrlichen Position beziehen heraus ("ich will auch ein Buch über Gitanos schreiben, und VIELLEICHT nehme ich auch das Glaubensthema mitrein", "ich will euren Glauben verstehen, und auch fühlen") ergab sich ein fruchtbares, dynamisches Gespräch, aus dem ich mehr Informationen und sozialintegrativen Fortschritt bezog als aus mindestens drei Messebesuchen. Er unterrichtete mich, ich interviewte ihn, ohne es zu "müssen", ja fast ohne es zu wissen. Am Ende ein Handschlag fast wie unter Kumpels. 
Die negativen Bewertungen kann ich nun wieder entschärfen (ohne obige Daten zu vergesen). Und es sieht so aus dass ich sogar als deklarierter Forscher da ein- und ausgehen kann was bisher unmöglich erschien. Denn mein "Buch" wird nun  als "gottgewollt" angesehen: als ein Art Werkzeug  Gottes, mich zu dieser Kirche bzw. zum wahren Glauben hingeführt zu haben. Hallelujah.

Samstag, 13. Oktober 2012

Zwei Leben

Schon wieder 7 Wochen vergangen seit meinem letzten konstruktiven Eintrag bzgl. der Forschung selbst - so sehr nimmt mich neben der Feldforschung immer mehr auch ein "Leben neben dem Forschen" hier ein: neue Bekanntschaften außerhalb der Stadt / des Feldes, Ausgleich, Frischluft, emotional-räumliche Befreiung, Befreiung aus erwähnten sozialen Abhängigkeiten im Feld, ein richtiges Haus bewohnen, Badewanne. Und Reflexion über mein temporär verlassenes Feld, andere Blicke von außen als die Meinigen.
Aber es gab/gibt noch viel mehr, das mich vom "Forschen" als solches abhält: Wohnmobil anmelden, Wohnmobil reparieren, Wohnmobil einrichten, gegen Wassereinbrüche im Wohnmobil ankämpfen. Haushalt machen, kochen, essen, Siesta. Krank im Bett liegen. Beim Klettern runterfallen und die rechte Hand für zwei Wochen schreibunfähig machen. Den Englischkurs halten, der bzgl. Datensammlung auch nicht mehr direkt zur Feldforschung zu zählen ist. Einfach mal was anderes lesen als Theorie-- Tagträumen! Didgeridoos basteln! Und nicht zuletzt Begegnungen im Feld bei denen ich meinen "Auftrag" mal ignoriere.


Aber die The_re_se lebt, ist nicht verhungert, ich habe mit relativ kleinem Aufwand und großer Effizienz das Ding so weit am laufen gehalten dass ich weiterhin ruhigen Gewissens am Wochenende ins Blaue fahren kann.
So wie schon vor Monaten, habe ich gleich beim Eintritt ins Feld einen vielversprechenden Mentor gefunden, ein Mann namens Mateo (Name geändert). Ich setzte mich in einer Messe des Culto (s. oben) zufällig neben ihn, er meinte dann dass es keine Zufälle gibt und lud mich am selben Abend noch zu sich nach Hause ein, zum Abendessen. Dieses Eingeladenwerden von Gitanos hatte monatelang nicht funktioniert, und nun so plötzlich! 
Er ist ein angesehener Mann, Familienpatriarch, überzeugter Gläubiger, gleichzeitig Traditionalist (starkes Spannungsfeld weil Opposition Culto-Tradition). Jaja, da kocht und serviert noch die Frau das Essen, und nur die Frau, während sie auch noch auf Enkerln und Urenkerln aufpasst (sie sind mit 62 bereits vielfache Urgroßeltern). Trotzdem ist diese Familie innerhalb der Gitanocommunity hier zum Bildungsbürgertum zu zählen...noch ein Spannungsfeld.
Das Leben ist voller Widersprüche, besonders hier, und einige davon muss ich in meiner Analyseküche zu einem  Süppchen verkochen, das zuerst mal ich selbst und dann meine KollegInnen sowie die Leute aus dem Feld für interessant-neu-rund-gesund für die Gesellschaft befinden.

Sonntag, 16. September 2012

Verborgene Netze

Nach der kleinen Katastrophe, dem "Reset" vom 8. September, wurde mir noch am gleichen Tag ein kleines Wunder zuteil, das ich mir zuerst nicht erklären, nicht fassen konnte, und das jetzt, nachdem es mir erklärt wurde, ein gewisses Geheimnis bewahrend, noch immer als ein heller und doch ferner Stern an meinem La Mina - Firmament steht:
Die Räuber, oder zumindest Bekannte von ihnen, haben mir alle Sachen die keinen ökonomischen Wert für sie hatten zurückerstattet (also alles bis auf die zwei Laptops.) Sie haben mir als ich gerade bei der Polizei war  nochmal die Beifahrerscheibe runtergedreht, sind also quasi nochmal eingebrochen um mir meinen Rucksack mit den Sachen in mein Häuschen einzuwerfen. Seinen Augen nicht trauen, ausflippen, Tränen lachen, das alles, ja, und die leise Vermutung ob der eine oder andere Gitano von La Mina  vielleicht nicht doch etwas für mich getan hat. Ich hatte Janko Moreno ja gleich nach dem Raub davon erzählt. Also zu seiner Bar, wo wie immer der nächtliche Moreno-Familienrat tagte, Janko erwartete mich schon mit einem gewissen Leuchten in den Augen, mich "ahnungslos" fragend wie es gelaufen ist. Auf meine Rück-Frage hin erklärte ER mir dann wie es gelaufen ist: Er hat "einige Freunde" von ihm mit Kontakten zur "Unterwelt" gebeten, sich umzuhören, und im Falle einer Auffindung der Täter dafür zu sorgen dass die wertlosen Gegenstände wieder zurückkommen. Was dann auch eintrat. Des weiteren hiess es, dass es 1. keine Leute von La Mina waren  und 2. auch nicht klar ist ob es Gitanos oder Payos waren. Mehr Information dazu gab es nicht - und die Art und Weise wie sich Janko z.B. darüber aufgeregt hat dass die Polizei nicht gleich Fingerabdrücke nahm (sprich er will auch dass man sie fasst) lässt mich vermuten dass die Morenos tatsächlich nicht wissen wer es war, dass sie mir diese Info nicht vorenthalten.

Sprich, Herr Moreno J. hat  über seine Beziehungen ein mächtiges Informationsnetzwerk zur Verfügung, das auch aktiv als ein Instrument verwendet werden kann und in soziale Bereiche und Untiefen hineinreicht die wohl außerhalb jeder Anthropologenreichweite stehen, zumindest außerhalb der Meinigen.  Die Zugangsbedingung für Janko ist: Diskretion, das heisst keine grossen Fragen stellen. Und sicherlich sehr bestimmtes Auftreten, Argumentieren, Fordern.

Morgen dürfte ich wieder einen Laptop haben und dann bin ich infrastrukturell wieder halbwegs geheilt, und um eine sehr profunde Felderfahrung reicher.