Zur Orientierung: Eintraege sind nach Datum von unten nach oben sortiert.

Legende
La Mina: Das Viertel in dem ich lebe und arbeite
CCG: Centro Cultural Gitano de La Mina - Kulturzentrum urspruenglich andalusischer Gitanos in La Mina
Culto: Evangelische Pentecost-Kirche mit hohem Gitanoanteil
Paco Moreno (alle Namen geändert): Praesident des CCG und Flamencopurist
Janko Moreno: Bruder von Paco, Barbesitzer, Flamenco-Fusionist
Kiko: Ein alter Gitano und wichtiger Gesprächspartner
Mateo: Gewährsmann im Culto, Mentor


payo/paya: Nicht-Gitano / Nicht-Gitana, emic-Begriff
quinquillero_a: Nomad_in, der/die wie ein Gitano lebt aber ethnisch keine_r ist, auch emic
mestizo_a: Jemand, der genetisch 50/50 Gitano/Payo ist

Sonntag, 28. Oktober 2012

Hallelujah!

Gestern abend - sehr interessant und fruchtbar, und mit einigen Implikationen die noch nicht wirklich absehbar sind.
Vorgeschichte: Ich besuche mittlerweile zwei Kirchen, die Große (s. letzter Eintrag) und eine kleine Garagenkirche in der selben Straße. Hier ein kleiner Überblick über die Verschiedenheit dieser beiden am Papier "gleichen" Kirchen, so wie es sich für mich bis jetzt darstellte:
  
Die Große Kirche - generell                          Die Kleine Kirche - generell  
Relativ hierarchisch                                                            Wenig hierarchisch
Stark institutionalisiert                                                        Wenig institutionalisiert
Höhere soziale Schichten, oder man tut so (Kleidung)     "Arbeiterkirche", Statuspräsentation unwichtig
Soziales u. ökonom. Kapital durch polit. Verbindungen     Soziales Kap. untereinander,wenig ökon. Kapital
Feld teilweise schwer zugänglich (Pastoren)                       Feld offen
Große Messe:                                                         Kleine Messe:
Heller, großer Kirchenraum: Halle                                  Dunkler, schummriger, kleiner Kirchenraum: Höhle
Durchstrukturiert, Ritual wird v. oben bestimmt                Wenig strukturiert, Ritual wird v. allen getragen
Theologischer Inhalt, Fokus auf die Predigt (45 min)        Wenig theol. Inhalt, Predigt 5-10 min
Gottesbeziehung über die Pastoren (veräußert)               Persönliche Gottesbeziehung (verinnerlicht)
Aktives Gebet: ca 10 min, nach Anweisung                    Viele die ganze Messe über, eigeninitiativ
Publikum passiv                                                                Publikum aktiv 
Trennung zwischen Pastoren und "Publikum"                 Grenzen verschwimmen, wenig Trennung
Viel Trennung unter den Messebesuchern                      Weitgehende soziale Einheit, "Familie"
Wenig Ekstase                                                                 Viel Ekstase

..............usw. 

Kurz, aus meinem bisherigen, geheimen Werten heraus: Große Kirche böse, kleine Kirche toll, große Kirche manipulativ bis diktatorisch, kleine Kirche demokratisch. Zu meiner Verteidigung soll aber gesagt sein dass ich in der Großen schon Messen erlebt habe, die mich verstört bis zerstört zurûckgelassen haben, und in einem Ekel und Zorn Religion und Kirche gegenüber. Stichwort "Manipulation" von seiten der Pastoren, und "Passivität" von seiten der Kirchengänger. Die Sicht verstärkt durch persönliche Wertungen, klar.  

Gestern kam aber alles anders. Mit der Vorahnung, dass heute abend im Culto was wichtiges passieren wird, ging ich in die kleine Kirche. Und stieß auf Unerwartetes: Sie erlaubten mir nicht, die Messe aufzunehmen, weil der Pastor nicht da war. Ich fühlte mich von einem Co-Pastor dann beobachtet, beäugt, unangenehm. Die Messe kurz und bündig, flach. Ein mir versprochenes Video nicht verfûgbar, usw. - nichts zu holen, außer die aus dem sichtbar Werden von Grenzen resultierenden Informationen.

Dann tatsächlich zufällig (planlos) bei der großen Kirche vorbei- und in die Nach-Messe-Gesellschaft vor der Kirche hineingestolpert. Und, jeglicher Absicht, "feldforschen" und Informationen generieren zu wollen, entledigt, konnten äußerst produktive Feldforschungssituationen entstehen. Oder: Meine soziale Performance (Offenheit) veranlasste einen der bis dahin so unzugänglichen Pastoren dazu, an mich heranzutreten und mal zu schauen wer denn dieser Fremdling ist, der in der Messe schon durch bloße Anwesenheit aufgefallen ist. Aus einem fast ganz ehrlichen Position beziehen heraus ("ich will auch ein Buch über Gitanos schreiben, und VIELLEICHT nehme ich auch das Glaubensthema mitrein", "ich will euren Glauben verstehen, und auch fühlen") ergab sich ein fruchtbares, dynamisches Gespräch, aus dem ich mehr Informationen und sozialintegrativen Fortschritt bezog als aus mindestens drei Messebesuchen. Er unterrichtete mich, ich interviewte ihn, ohne es zu "müssen", ja fast ohne es zu wissen. Am Ende ein Handschlag fast wie unter Kumpels. 
Die negativen Bewertungen kann ich nun wieder entschärfen (ohne obige Daten zu vergesen). Und es sieht so aus dass ich sogar als deklarierter Forscher da ein- und ausgehen kann was bisher unmöglich erschien. Denn mein "Buch" wird nun  als "gottgewollt" angesehen: als ein Art Werkzeug  Gottes, mich zu dieser Kirche bzw. zum wahren Glauben hingeführt zu haben. Hallelujah.

Samstag, 13. Oktober 2012

Zwei Leben

Schon wieder 7 Wochen vergangen seit meinem letzten konstruktiven Eintrag bzgl. der Forschung selbst - so sehr nimmt mich neben der Feldforschung immer mehr auch ein "Leben neben dem Forschen" hier ein: neue Bekanntschaften außerhalb der Stadt / des Feldes, Ausgleich, Frischluft, emotional-räumliche Befreiung, Befreiung aus erwähnten sozialen Abhängigkeiten im Feld, ein richtiges Haus bewohnen, Badewanne. Und Reflexion über mein temporär verlassenes Feld, andere Blicke von außen als die Meinigen.
Aber es gab/gibt noch viel mehr, das mich vom "Forschen" als solches abhält: Wohnmobil anmelden, Wohnmobil reparieren, Wohnmobil einrichten, gegen Wassereinbrüche im Wohnmobil ankämpfen. Haushalt machen, kochen, essen, Siesta. Krank im Bett liegen. Beim Klettern runterfallen und die rechte Hand für zwei Wochen schreibunfähig machen. Den Englischkurs halten, der bzgl. Datensammlung auch nicht mehr direkt zur Feldforschung zu zählen ist. Einfach mal was anderes lesen als Theorie-- Tagträumen! Didgeridoos basteln! Und nicht zuletzt Begegnungen im Feld bei denen ich meinen "Auftrag" mal ignoriere.


Aber die The_re_se lebt, ist nicht verhungert, ich habe mit relativ kleinem Aufwand und großer Effizienz das Ding so weit am laufen gehalten dass ich weiterhin ruhigen Gewissens am Wochenende ins Blaue fahren kann.
So wie schon vor Monaten, habe ich gleich beim Eintritt ins Feld einen vielversprechenden Mentor gefunden, ein Mann namens Mateo (Name geändert). Ich setzte mich in einer Messe des Culto (s. oben) zufällig neben ihn, er meinte dann dass es keine Zufälle gibt und lud mich am selben Abend noch zu sich nach Hause ein, zum Abendessen. Dieses Eingeladenwerden von Gitanos hatte monatelang nicht funktioniert, und nun so plötzlich! 
Er ist ein angesehener Mann, Familienpatriarch, überzeugter Gläubiger, gleichzeitig Traditionalist (starkes Spannungsfeld weil Opposition Culto-Tradition). Jaja, da kocht und serviert noch die Frau das Essen, und nur die Frau, während sie auch noch auf Enkerln und Urenkerln aufpasst (sie sind mit 62 bereits vielfache Urgroßeltern). Trotzdem ist diese Familie innerhalb der Gitanocommunity hier zum Bildungsbürgertum zu zählen...noch ein Spannungsfeld.
Das Leben ist voller Widersprüche, besonders hier, und einige davon muss ich in meiner Analyseküche zu einem  Süppchen verkochen, das zuerst mal ich selbst und dann meine KollegInnen sowie die Leute aus dem Feld für interessant-neu-rund-gesund für die Gesellschaft befinden.