Zur Orientierung: Eintraege sind nach Datum von unten nach oben sortiert.

Legende
La Mina: Das Viertel in dem ich lebe und arbeite
CCG: Centro Cultural Gitano de La Mina - Kulturzentrum urspruenglich andalusischer Gitanos in La Mina
Culto: Evangelische Pentecost-Kirche mit hohem Gitanoanteil
Paco Moreno (alle Namen geändert): Praesident des CCG und Flamencopurist
Janko Moreno: Bruder von Paco, Barbesitzer, Flamenco-Fusionist
Kiko: Ein alter Gitano und wichtiger Gesprächspartner
Mateo: Gewährsmann im Culto, Mentor


payo/paya: Nicht-Gitano / Nicht-Gitana, emic-Begriff
quinquillero_a: Nomad_in, der/die wie ein Gitano lebt aber ethnisch keine_r ist, auch emic
mestizo_a: Jemand, der genetisch 50/50 Gitano/Payo ist

Donnerstag, 28. Juni 2012

Ein fast normaler Tag aus dem Feldtagebuch

Die derzeitige Flut an Aufgaben, Informationen und Wendungen im Leben von Th_er_ese bzw. meinem Leben(-sabschnitt) hier in La Mina haben mich nun schon drei Wochen lang keinen Eintrag mehr schreiben bzw. einige Versionen verwerfen lassen. Ich glaube, die beste Form um diese Zeit anschaulich darzustellen, ist eine tagebuchartige Wiedergabe eines Tages (im Sinne einer "leichten" dichten Beschreibung, es ginge noch dichter) der viele aktuelle Facetten meines Feldaufenthalts bzw. des Felds anschneidet, es war gestern, Mittwoch der 27.6. Der Tag war sehr bewegt, ich schicke also voraus dass es auch ruhigere Tage als diesen gibt. Aber nicht viele.

9:00 Aufstehen, ich brauchte viel Schlaf.
Frühstück, Tagesplanung, Bezirksverwaltung angerufen wegen Ausnahmegenehmigung für Aufenthalt (leben) in der Straße mit dem Wohnmobil *, abgelehnt weil ungesetzlich, nehme mir vor am Montag mit dem Anwalt des CCG darüber zu sprechen

10:00 Ins CCG, mit einer Gitano-Dachorganisation die am Wochendende ein Roma-Festival in der Stadt veranstaltet („Romanistan“), ein Treffen für morgen vereinbart, bei dem es darum gehen wird, wie ich mich als freiwilliger Helfer am besten einbringen kann (und am besten zu Informationen / Eindrücken zur Frage, wie Integration über dieses Festival verhandelt und kommuniziert wird, komme).
Sara (s. Legende) fragt mich dann, ob ich „Freunde unter den Drogenabhängigen“ hätte. Irgendwer erzählt herum (sie will mir nicht sagen wer), mich mit diesen Leuten gemeinsam gesehen zu haben, was natürlich eindeutig beweist, dass auch ich bereits der „droga“ (Heroin) verfallen bin. Ich habe aber noch nie mit ihnen gesprochen, war nur einige Male an ihrem Platz um ihn mir anzuschauen bzw. in der Nähe um den Inhalt meines mobilen Klos zu entleeren. So können die banalsten Alltagsangegelegenheiten den Forschungsprozess beeinflussen, viele würden sagen „stören“, ich versuche es aber als wertvolles Datum zu verwerten, auch wenn es für mich persönlich und für meine Rolle als CCG-Mitarbeiter natürlich ein Schock ist.

Es ist bereits zwölf, also zur Bar von Janko, ich habe mit ihm vereinbart dass wir gemeinsam eine Flamencoversion von „Zum Geburtstag viel Glück“ für meine Schwester aufnehmen. Ich helfe beim Tragen von Lebensmitteleinkäufen für die Bar. Die Aufnahme kommt aus verschiedenen Gründen nicht zu stande, es läuft wieder mal alles ganz anders wie geplant. Janko meint dass ich mich vor dieser Gitano-Organisation in Acht nehmen sollte, er habe dort jahrelang gearbeitet, sie seien die „Taliban“ unter den Gitanos.
Gut, ich verabschiede mich für eine Stunde, probieren wirs später nochmal, ich gehe inzwischen zurück zum CCG, um Tagebuch zu schreiben, weil mein Kopf aufgrund aufgestauter, noch nicht niedergeschriebener Erinnerungen und Informationen immer schwerer wird, höre aber wie Sara und die Sozialarbeiterin des CCG u.a. über meine Klasse reden und bringe mich ein, es geht um einen schwierigen Schüler.

15.30: Zurück zur Bar, nur Janko und seine Frau sind da. Seine Frau fragt mich, wen aus dem Viertel ich am verrücktesten halte, ich finde keine richtige Antwort, später dann sage ich: ich selbst bin es, ja genau, ich selbst, Janko nickt zustimmend: So ist es, ich auch. Gespräch über Gitanoleben früher, ihre Eltern noch Nomaden, Leben noch schwieriger gewesen (Franquismo), Zusammenhalt, Leben heute auf andere Weise schwierig oder bedroht , durch Kaptialismus /Konsumismus, etc. Aufnahme auf Abend verschoben, wenn mehr Leute in die Bar kommen.

16.30: Fantastische und dringend nötige Gulaschsuppe mit Erdäpfel, Rindfleisch und Gemüse in Mirandas Bar. Mir wird dann aber doch kurz schlecht als auch sie mich auf die Drogengeschichte anspricht, mir beteuernd dass sie mich verteidigt hätte. Auch sie will mir den Schwarzen Peter aber nicht ausliefern. Ich sehe schon das ganze Viertel mich fallenlassen, als Unberührbaren, halte mich aber weiterhin an meinem „wertvolle Daten“ – und „Distanz zum Feld einnehmen“ – Gedanken fest.

17.30: Ich sehe Kiko (s. Legende) auf der anderen Straßenseite auf einer Bank sitzen, mit einer Gans. Er ist gerade zurück aus einer anderen Stadt, wo er sie gekauft hat um sie selbst zu schlachten. Wie mittlerweile jeden Tag setze ich mich zu ihm und wir reden, diesmal hauptsächlich über die Gans und was mit ihr passieren wird, etc. Um 19 Uhr wird er ihr an dieser selbigen Bank, im öffentlichen Raum also, die Kehle durchschneiden. Ich frage ihn ob ich das dokumentieren darf, „natürlich, bitteschön“, ich verabschiede mich für eine kleine Siesta im Bus, brauche unbedingt Ruhe um zu verarbeiten und wieder aufnahmefähig zu werden.
Es dauert dann bis 8 bis es soweit ist. Das Messer ist sehr schlecht und das Ganze deshalb noch grausamer als es sein müsste.

Ich bleibe noch eine Stunde sitzen weil ich die Gesprächssituation interessant finde, direkt nach so einer Schlachtung, die erste seit 9 Jahren für ihn. Es geht um die Kurse im CCG, seine Schwiegertöchter, seinen Lebensfrust, seine „Gitano-Psychologie“, und dann auch meine, er beweist sehr gute Menschenkenntnis, sieht in mich hinein. Er gibt mir den Rat, unnötige Infos und das Schlechte das mir widerfährt und meine Sorge um meinen Ruf zu vergessen, damit ich meinen Kopf freibekomme etc, wow, beeindruckend und wunderbar, aber gleichzeitig schreit eine innere Stimme : Heimgehn Heingehn! Ruhen! Schreiben! Verarbeiten! Aber ich ignoriere sie, mit dem Ergebnis dass ich erst jetzt ruhe und schreibe, aus meinem Rythmus, es bleibt keine Zeit mehr die vier oder fünf anderen wichtigen Konversationen der letzten zwei Tage aufzuschreiben , es bleibt keine Zeit die morgige E-Klasse vorzubereiten, es bleibt keine Zeit mir besagte Gitano-Organisation anzuschaun, usw., alles auf morgen verschieben, d.h. der Wahnsinn wird morgen unvermindert weitergehen. Samstag ist dann schon die erwähnte Veranstaltung, eine Woche darauf dann hier in La Mina das Flamencofestival des CCG, dessen wichtigste Veranstaltung des Jahres. Es ist kein Ende der Intensität der Arbeit absehbar.

Das Schlimme an der Überbelastung im Forschungsprozess ist neben den körperlichen Grenzempfindungen vor allem die Tatsache, dass ich für die Erfahrungen im Feld, v.a. die Gespräche, abstumpfe, weil ich die viele Information nicht verarbeiten und filtern kann. Es ist Zeit für Rückzug, und die einzige Sache wo ich Einsparpotential sehe ist die spontane Felderfahrung und das Mich-Einlassen auf die Alltagsgespräche in der Straße, jenes „Zusätzliche“ neben meinen unbedingten sozialen, praktischen und wissenschaftlichen Verpflichtungen, jenes Zusätzliche das gleichzeitig der Kern meiner Arbeit hier ist, muss glaube ich zwischendurch und temporär weichen.

*) Ich habe mir vor drei Wochen bereits ein Wohnmobil gekauft, um der Straße näher zu sein, flexibler zu sein, usw. – zum „Forschen aus der Straßenperspektive“ werde ich später einen Eintrag schreiben.

Dienstag, 12. Juni 2012

Identifikation und Wertung: Gegensteuern!

Letzte nacht ist mir wieder mal eine schuppe von den augen gefallen bzw. ein zacken aus der feldforscherkrone gefallen oder wie auch immer man das nennen mag: anhand eines beispiels ist mir klar geworden, ab wann oder wo der identifikationsgrad mit dem feld für die forschung schädlich zu werden beginnt.

Ich habe eines tages in einer bar Palomo kennengelernt, gitano in meinem alter, der sein zubrot u.a. damit verdient, kontakte zu „mädchen“ herzustellen, die nach einer gewissen annäherungsphase bereit sind, gegen geld gewisse von kirche und gitanokodex eingeforderte sexualitäts- und moralnormen zu verletzen. Er ist darüberhinaus ein beispiel einer der vielen personen hier, mit denen es fast nicht möglich ist, den hier sehr gängigen „marricon“-diskurs (bedeutet so etwas wie (emic:) „schwuler hund“) zu vermeiden. Vor allem wenn man wie ich zu jenen forscher_innen gehört, die da im sinne der “verbalen kumpanei“ (Lindner) gerne bereit sind , auch bei homophoben schweinereien wie diesen zumindest mitzuspielen, um eben – wieder: anerkennung zu gewinnen bzw. türen zu öffnen (keine ahnung wie ich das auflösen soll). Und zudem bedient Palomo gewissermaßen eines der beliebtesten romaklischees, jenes „dass sie nix oabeitn wulln“, um das jetzt mal im österreichischen dorfjargon auszudrücken, d.h. er improvisiert sich halt durch und vermeidet damit, vom aus dieser perspektive kapitalistisch-rassistischen hegemonialen system als vertreter der untersten sprosse der gesellschaft ausgebeutet zu werden oder als passiver sozialhilfeempfänger am existenzminimum dahinzuvegetieren:
Er serviert mir überlebensstrategien, auf dem silbertablett.

Gut, nachdem er mir auch eine wohnung angeboten hat, eine weitere vielleicht nicht ganz legale geschichte, hab ich mal Janko (s. legende) gefragt, was ich denn davon zu halten hätte. Janko scheint hier nämlich eine art definitionshoheit zu genießen, wer jetzt gut und wer schlecht ist. Wenn du mal nicht weiterweißt oder was brauchst, frag Janko, der kennt die guten leute, und wenn du dir bezüglich der integrität einer person mal nicht sicher bist, frag Janko. Gut, er hat mir vom umgang mit besagtem Palomo sowie von dessen wohnung natürlich wärmstens abgeraten. Ich habs ihm abgenommen und von da weg abstand genommen, nicht nur von der Wohnung, sondern von der person Palomo. Ich habe mich damit vollends mit dem leben hier identifiziert, in dem sinne dass ich hier nur „guten umgang“ haben möchte, „gut leben“ möchte, etc. , und hab mich in der hinsicht vom forscherauftrag verabschiedet: Es geht nicht darum, es gut zu haben, sondern seine augen offen zu halten und sich alles anzuschauen, was der forschungsfrage dient und was man persönlich ertragen kann. Es würde durchaus zu weit gehen, wenn ich „in toppitssackerln verpackt“ wieder heimkommen würde, weil ich zb „ethnographische erfahrungen als drogenkurier sammeln wollte“ , wie es mir ein kollege so erfrischend-illustrativ kommuniziert hat. Und der gute Palomo ist nach meiner eigenen einschätzung keiner, mit dem mir das passieren wird. Damit wäre die „bottom line“ auch schon erfüllt, und damit kann ich sagen: Statt ihn als person zu werten, was hier völlig im soziokulturellen bedeutungsnetz verfangene weil hier schon immer lebende personen tun, sollte ich ihn doch bitte zB als ein wunderschönes beispiel für überlebensstrategien sehen, wertfrei, und ihm zumindest „eine chance geben“, ihn zumindest nicht vermeiden.

Selbiges gilt für die strikte ablehnung seitens des moreno-clans dem „culto“ gegenüber, der hier boomenden und die gitanocommunity spaltende evangelikalen kirche, vor der ich jetzt auch schon angst bekomme bevor ich sie mir wirklich angesehen habe, und es gilt ebenso für die konfliktive haltung des moreno-clans der bürger_innenplattform von La Mina gegenüber, mit dessen präsidenten ich schon ein gutes interview geführt habe und eine gute basis hatte. Jetzt, nachdem mir moreno im vertrauen gewisse dinge über ihn erzählt hat, muss ich aber feststellen dass sich meine position, zumindest ihm gegenüber, auch verändert, ins „negative“, wertende – und vermeidende.

Kurz: Es ist klar, dass man von seinen gewährsleuten beeinflusst wird, das is ja der sinn der sache, aber bei den wertungen ist eben der strich zu ziehen und abstand zu nehmen. Der schutz und das heil meiner person kann oder darf ich nicht über wertkonservative haltungen, sondern in der eigentlichen kommunikationssituation herstellen: sehr wohl mit einem wie Palomo reden, aber dabei eine gewisse kontrolle behalten, da ist zB der „schmäh“ ein sehr schönes werkzeug, und sollte es sozusagen persönlich werden, versuchen mich zu behaupten, das gesicht nicht zu verlieren. Sollte das nicht funktionieren (sprachlicher nachteil und wenig erfahrung mit hiesiger kommunikationskultur), bleibt nur noch, dass es mir egal wird, was bei dieser begegnung rauskommt, solangs nicht physisch wird, und dass mir für den moment dieser mensch selbst egal wird und damit mein status bei ihm/ihr.
Klingt nach einer jener bösen anthropologenfeldforschungshandlungsanleitungen.