Ich geh jetzt nach Haus weil die Feldforschung die ist jetzt aus -- das wurde mir am 30. Jänner bewusst, nach einer Supervisionssitzung in der "Deutungswerkstatt" am Kulturanthropologie-Institut in Graz, wo ein Ausschnitt aus meinem Feldtagebuch von der Gruppe analysiert wurde. Das Resultat war drastisch: "Komm heim, am besten gleich, es reicht schon für drei Diplomarbeiten! Mach fertig, weil sonst wird das nix !"
Das war wieder mal eines der ganz großen Aha-Erlebnisse, das mir bewusst machte, dass ich da doch in einer ganz schönen Manie verwickelt war...der festen Meinung, bei der Forschung noch nicht genug zu haben weil noch bei keinem "Punkt" angekommen, war ich zum Beispiel bereit, die Schikanen, Kosten und den Aufwand eines Gast-Studiums an der Uni-Barcelona auf mich zu nehmen, nur um dort bleiben zu können, im Feld. Ich war halt wirklich "drinnen", in meinem Ding, und konnte es nicht von außen sehen. Die Supervision im fernen Graz holte mich da raus und machte mich sehen. (Man muss aber auch berücksichtigen, dass ich mich in eine Spanierin verliebt hatte, die nicht mit mir mitkommen konnte, was meinen geistigen Horizont zusätzlich auf das "Dort" einschränkte).
Mir blieben also netto gerade einmal drei Wochen zum Beginn des neuen Semesters, nun in Graz. Denn eine Woche musste ich ja für die Fahrt mit dem Wohnmobil einrechnen, jajaja genau, mit dem Wohnmobil.
Drei Wochen für all das was ich noch wissen wollte und machen musste, Interviews vor allem, drei Wochen für ein hoffentlich behutsames Abbauen der Feldforschungsbeziehungen und Illusionen, die ich bei meinen "Glaubensbrüdern" geschaffen hatte (in Bezug auf Annehmen des Glaubens), für Reparaturen & Pickerl fürs Wohnmobil, für Abschied Abschied Abschied, und so weiter.
Ausgehend von meinen bisherigen Erfahrungen, die ich beim vorübergehenden Aussteigen aus dem Feld gemacht hatte (Österreichbesuche), wo sich die Intensität der Ideen, Ereignisse und Begegnungen jedes Mal zur Abfahrt hin in einer logarithmischen Kurve nach oben potenziert hatte, wusste ich dass es diesmal auf irgendeine, noch nicht vorhersehbare Weise "ganz arg" werden müsste, weil diese Abfahrt ja die endgültige sein würde.
Tja und so war es auch --- endlich war ich wieder mal in den Bars und Zusammentreffen in der Straße "so richtig dabei" und "integriert"! ...weil ich wieder rausging, drauf zu ging.
Endlich führte ich richtige Interviews! ... auch deshalb weil ich nun auch Gesprächstermine bei schwer erreichbaren Leuten wie den mittlerweile sehr fernen "Auftraggeber" der Arbeit, Paco Moreno, oder bei gewissen Kirchenleuten, bekam.
Endlich bekam ich Zugang zur weiblichen Seite der Kirche, was bis dahin unmöglich war, zu einer "Alten", Witwe, Familienoberhaupt, Zentrum der täglichen Familien-Treffen in der Straße.
Außerdem lernte ich einen männlichen "Alten" der Kirche kennen, der einmal z.B. eine spontane spirituelle Vision in meinem Beisein, ja durch mein Beisein, hatte. Bei solchen und anderen, ähnlichen Ereignissen knisterte es schon im Gehölz, da bekam ich schon das Gefühl, so in Wellen, dass es jetzt "heiß" wird.
Am Freitag, den 22.2. war es dann so weit: das Wohnmobil war repariert und bereit fürs Pickerl, Samstag sollte es los gehen. Der Tag war vollgestopft mit einem großen Interview, der Pickerlprüfung, Wäsche waschen, ein Hospitalbesuch mit einer Gruppe der Kirche (Beistand für Kranke), der Abendmesse, einem Abendessen mit besagtem "Alten", und Offensein für das was da sonst noch kommen mag ... und es kam: während des Tages erreichte mich die Information, dass es eine Nachtmesse mit den Jungen (zwischen 15 und 25 Jahren) geben würde, ungewöhnlich, weil diese Messen immer Donnerstags stattgefunden hatten. Sie würde von J.D.* geleitet werden, mein "Bibellehrer", Priesterkandidat, zu dem sich schon bei anderen Gelegenheiten eine besondere, starke Verbindung gezeigt hatte. Es würde ein "Film" gezeigt werden, und dann open end, hieß es.
Hier der Tagebucheintrag der Nachtmesse:
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Unglaublich, wie lang das Video, wie anstrengend. Eine Aufzeichnung eines großen Culto-"Marathons" in Madrid, Konzertcharakter, sehr programmatisch und manipulativ, die Gläubigen erschienen wie Marionettenpuppen.
Es gab wieder diese Bäckereien die gedumpstert ausschauen. Als es endlich vorbei war, Energie natürlich davon, bei allen, viele gingen. Und der enge Zirkel der Jungs blieb. Die die immer bleiben. J.D. ließ sie einen Kreis bilden und stellte mich hinein - Gebet für mich, zum Abschluss / Abschied. Ich schaffte es loszulassen, die wie auch immer geartete Energie dieses Gebets über mein eigenes mich-Ausdrücken, mich-Trauen, tun, bewegen,...anzuzapfen.
Begann zu springen, im Kreis dann, alle adressierend, klatschen, lustige Handbewegungen. Sie flippten aus, es war großartig. Und der Beginn des liminalen Zustands, kollektiv. So liminal für mich, dass das Gedächtnis hier nicht mehr ganz chronologisch geht, eher qualitativ.
Für mich persönlich wichtig: die Umarmungen. V.a. mit dem Monkeybar-Jungen, der ganz viel Drama am laufen hatte, ich sagte ihm in der Umarmung, sorgfältig in meinem Herz und seinem Leben lesend, dass alles gut ist, dass Jesus immer mit ihm ist, mit seiner Familie und seiner Zukunft. Er lag mir schluchzend und dankend in den Armen. Oder an Pepe´s Seite singend... ich kostete alles aus was sich anbot und half wo ich konnte. [Das Ritualsetting - Dunkelheit und das laute kreuz-und-quer-Singsang aller im Gespräch mit Jesus Vertieften - bietet ja in ihrer visuellen und akustischen Anonymität große Möglichkeit zur Freiheit. ]
Ein Junge lag lange Zeit regungslos und ausgestreckt am Boden - bizarr, aber schon ok, "es geht ihm gut", sagten die anderen.
Dafür "hatte es was" an anderer Stelle: J.D. erregte meine Aufmerksamkeit, intuitiv, er war in einer eigenartigen an den Sessel gekauerten Haltung, ich setzte mich neben ihn, hörte ihn flüsternd, tief versunken, mit der heiligen Dreifaltigkeit reden. Weiß nicht mehr genau, ich entfernte mich irgendwann wieder, und sah ihn dann plötzlich weinend, halb am Sessel, halb am Boden niedergebrochen, ich hockte mich neben ihn, hielt ihn ein bisschen, und er erwachte regelrecht aus einem in Tränen Verlorensein, allein sein, (vorher irgendwann, laut und verzweifelt betend: "hilf mir, ich bin allein!"), er ließ Licht einschalten, holte die Leute zusammen, mit verschwollenem Gesicht, sagte dass der heilige Geist mit ihm geredet habe, auf neue Art und Weise: "Willst du Menschenmassen?" - sein Drama war, zu glauben dass er über die 5 Jahre der Arbeit mit den Jungen nicht genug erreicht habe, dass es zu wenige seien. Der heilige Geist habe ihm also gesagt, dass er das, die Gruppe, wertschätzen solle; aus ganzem Herzen weinend, alle, aber vor allem J.D., alle gemeinsam ihn umarmend, er: "danke für euch", und dass er sie nun vollkommen wertschätzt etc., das war der Punkt wo die Nächstenliebe nicht mehr über Jesus, sondern direkt ausgedrückt wurde, der Schlüsselmoment. Die Doktrin / Ideologie im Kern aufgelöst, vorübergehend. Das setzte sich noch kurz fort, als sich J.D. dann bei Mariano bedankte, ich stand daneben und hörte zu, er bedankte sich direkt bei ihm (nicht über Jesus) als Rückgrat der Gruppe und der Arbeit mit den Jungs, Mariano in tiefer Dankbarkeit, was für eine Bestätigung für ihn, Selbstwert, als wertvoller Teil der Gesellschaft, das alles.
Schön dann auch, ein bisschen mit J.D. über die Messe zu reflektieren, ich: "das war ein Wunder, mehr braucht es dazu nicht", er, die menschliche Seite wieder vergessend: "...und das kann nur der heilige Geist bewirken, ein Psychologe bräuchte dafür Jahre..."
Stark auch der Moment, wo ich vor Allen die besondere Verbindung zwischen mir und J.D. ansprach.
Gemeinsames Foto gemacht. J.D. gab mir seine Postadresse für weiteren Papierbriefkontakt (!), er habe kein E-Mail. Verabschiedet.
Um 3 Uhr früh völlig fertig, Feld-trunken, in einem veränderten Bewusstseinszustand, heim.
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Mit diesem abschließenden Erlebnis ist genau das Gegenteil von dem passiert, was ich aus Vernunft und Supervision heraus vorgehabt hatte: Ein Nicht-Glaubensbekenntnis, ein Abbauen des automatisch entstandenen Bildes, dass ich quasi auf dem Weg zum wahren ( dem ihrigen) Glauben wäre. Es hatte schon gereicht zu sagen, dass ich "versuchen wolle, ihren Glauben zu fühlen um ihn zu verstehen", dazu meine aktive Beteiligung bei den Jungen-Messen etc., da half es auch nichts, über die großen Messen kritisch zu reden. Dieses Bild von mir und der Anspruch an mich, den "Weg" weiterzugehen, hatte sich schon verfestigt, bis hin zum Status des Glaubensbruders, der mir bei der letzten Nachtmesse offen "verliehen" wurde. Hätte ich da sagen sollen: "ähm, ja, stimmt schon, ich fühle mich euch brüderlich verbunden und alles, aber ich kann mich mit eurer Doktrin nicht identifizieren..." ??
Dies muss ich jetzt in den Briefen an J.D. bewerkstelligen.
Nicht nur aus forschungsethischen Gründen, sondern auch weil ich im Sommer noch einmal für ergänzende Fragen die mir bis dahin sicher kommen werden, vorbeischauen möchte, und da die Verhältnisse geklärt haben möchte.
Und dann nochmal in einem Jahr, um die spanische Version der Diplomarbeit in Buch- oder Prospektform zu verteilen, vielleicht auch offiziell zu präsentieren, in der Bibliothek von La Mina. Auch wenn es "nur" eine Diplomarbeit ist, aber nach allem was passiert ist, glaube ich ist es wichtig dass die Betroffenen selbst Zugang zu den Ergebnissen und Schlüssen meiner Forschung haben. Interesse besteht genug.
Es war mir eine Freude, meine Erlebnisse und Gedanken mit euch zu teilen. Ich glaube das ist jetzt der Schluss. Das Wohnmobil hat es übrigens bis nach Österreich geschafft - das Nomadenexperiment geht weiter.
* alle Namen geändert
Dieser Blog soll Medium sein für die Vermittlung und Reflexion meiner Feldforschung für die Diplomarbeit in Barcelona/ESP, Thema "Protestantische Kirchen als soziokulturelles Problem in spanischen Romacommunities". So bin ich hier auf mich allein gestellt, die Fittiche von Schule, Arbeitgeber, Uni hinter mich lassend, mein erstes *eigenständiges* Projekt, mein Kind quasi, bin somit Alleinerzieher von meiner Th_er_ese, eher antiautoritär, glaube ich: Entwickeln und entwickeln lassen.
Zur Orientierung: Eintraege sind nach Datum von unten nach oben sortiert.
Legende
La Mina: Das Viertel in dem ich lebe und arbeite
CCG: Centro Cultural Gitano de La Mina - Kulturzentrum urspruenglich andalusischer Gitanos in La Mina
Culto: Evangelische Pentecost-Kirche mit hohem Gitanoanteil
CCG: Centro Cultural Gitano de La Mina - Kulturzentrum urspruenglich andalusischer Gitanos in La Mina
Culto: Evangelische Pentecost-Kirche mit hohem Gitanoanteil
Paco Moreno (alle Namen geändert): Praesident des CCG und Flamencopurist
Janko Moreno: Bruder von Paco, Barbesitzer, Flamenco-Fusionist
Kiko: Ein alter Gitano und wichtiger Gesprächspartner
Mateo: Gewährsmann im Culto, Mentor
Janko Moreno: Bruder von Paco, Barbesitzer, Flamenco-Fusionist
Kiko: Ein alter Gitano und wichtiger Gesprächspartner
Mateo: Gewährsmann im Culto, Mentor
payo/paya: Nicht-Gitano / Nicht-Gitana, emic-Begriff
quinquillero_a: Nomad_in, der/die wie ein Gitano lebt aber ethnisch keine_r ist, auch emic
mestizo_a: Jemand, der genetisch 50/50 Gitano/Payo ist